"Die Zugereisten" von Lojze Kovacic

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France Prešeren
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Jan 2010 25 23:43

"Die Zugereisten" von Lojze Kovacic

Ungelesener Beitrag von France Prešeren

http://www.kultiversum.de/Literatur-Literaturen/Slowenien-I-Peinlichkeit-Sprache-Faschismus-Zweiter-Weltkrieg-Identitaet-Migration-Saga-der-Schoenheit-und-der-Grausamk.html?p=6 hat geschrieben:Lojze Kovacics Roman-Trilogie "Die Zugereisten" ist ein Meisterwerk

In die Schlagzeilen geriet Slowenien im Juni 1991, mit einem Schock, der den ganzen Kontinent erschütterte. Die Bürgerwehr des nach Autonomie strebenden Landes hatte die Grenzstationen nach Italien und Österreich besetzt. Es gab Gefechte mit der jugoslawischen Volksarmee, deren Kampf-Jets bei ihren Einsätzen auch das Territorium der Nachbarländer überflogen.

Viele, die sich im ewigen Frieden gewähnt hatten, konnten es kaum fassen – Krieg mitten in Europa! Die Slowenen aber hatten Glück. Schnell gab der Machthaber in Belgrad, Slobodan Milosevic, diese Provinz preis, und das Musterländle, das endlich seinen relativen Wohlstand nicht mehr mit dem armen Süden teilen musste, konnte den Weg in Richtung Europäische Gemeinschaft beschreiten. Seit ein paar Monaten bezahlt man auch in Slowenien nicht mehr mit Tolar, sondern mit Euro.

Fragt man nach Spuren Sloweniens in der Literatur, erwähnen die Einheimischen gerne, dass kein Geringerer als Ernest Hemingway der Gegend um Görz ein literarisches Denkmal errichtet hat – im Roman «A Farewell to Arms» (In einem andern Land). Heute ist Görz geteilt in das italienische Gorizia mit schöner Altstadt und das slowenische Nova Gorica mit sozialistischer Musterarchitektur. Ein blutiges Denkmal allerdings: die romantische Berg- und Wildwasserlandschaft des Soca-Tals (italienisch: Isonzo) war die Kulisse grausamer Schlachten des Ersten Weltkriegs, mit mehr als einer Million Toten. Heute kann man das im Kriegsmuseum von Kobarid (Caporetto, Karfreit) nachvollziehen, einem Städtchen, in dem die Alpenlandschaft nahtlos ins Mediterrane übergeht.

Peter Handke, mütterlicherseits von Kärntner Slowenen abstammend, hat Slowenien lange als «Neuntes Land» hinter den sieben Bergen verklärt. Landschaftliche Magie verband sich dabei mit dem Wunschbild einer auf den Partisanen-Heroismus des Zweiten Weltkriegs gegründeten sozialistischen Anderswelt ohne DDR-Grauschleier. Die Verwestlichung empfand Handke dann als enttäuschende Profanierung – was wiederum auf die Handke-Leser in Slowenien sehr desillusionierend wirkte. Bekanntlich reiste der Dichter dann weiter nach Serbien.

Ein Duft von Knechtschaft und Misthaufen

Slowenische Autoren sind jenseits der Grenzen fast unbekannt, von Slavoj Zizek einmal abgesehen. Wer hat von den im Land selbst hochverehrten Klassikern Ivan Cankar oder France Preseren, dessen Denkmal im Herzen der Hauptstadt Ljubljana steht, auch nur gehört?

Thema der slowenischen Literatur ist seit je das harte ländliche Leben – ein Duft von Knechtschaft und Misthaufen durchzieht sie und lässt den heutigen Euro-Wohlstand noch nicht einmal ahnen. Dieses Muster erfüllt auch ein Werk der Literatur Sloweniens, das nun endlich auf Deutsch vorliegt: die Roman-Trilogie «Die Zugereisten» von Lojze Kovacic, entstanden in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – ein Werk, das von der slowenischen Kritik zum «Roman des Jahrhunderts» gewählt wurde. Gleich zu Beginn lässt der Autor den Ich-Erzähler und dessen Familie aus dem Basler Bürgerleben buchstäblich in den ländlichen Schlamm der väterlichen Herkunftswelt plumpsen.

«So verließen wir Basel», lautet der erste Satz, schlicht und scheinbar harmlos. Hat man das gewaltige autobiografische Erinnerungswerk gelesen, bekommt er eine starke tragische Aufladung – so verließen sie Basel im Jahr 1938, und ein langer Leidensweg begann: «Nach dreißig Jahren Leben in der Schweiz haben sie uns hinausgeworfen.»

Fremde werden «ausgeschafft»

Lojze Kovacic, 2004 gestorben, wurde wie sein Ich-Erzähler 1928 in der Schweiz geboren. Dorthin war sein Vater, ein slowenischer Kürschner, um 1910 mit seiner aus dem Saarland stammenden Frau ausgewandert. Schreckenserfahrungen blieben nicht aus. Während des Ersten Weltkriegs wurde ihm das Geschäft demoliert; die antiserbische Stimmung in der Schweiz fand auch in emigrierten Slowenen zureichende Opfer. Aber er brachte es bald auch zu Wohlstand: zu einem Haus und zwei Geschäften, für die er mit halbseitigen Anzeigen in Zeitungen warb. Radio, Grammofon und ein Klavier für die Kinder gehörten zum Lebensstil. An die armen Brüder in Slowenien schickte man Geld.

Dann aber kam die große Wirtschaftskrise. In besseren Zeiten hatte Kovacic senior es versäumt, die Schweizer Staatsbürgerschaft anzunehmen. Jetzt, im Zeichen des aufziehenden Krieges, werden die Nicht-Staatsbürger, zumal die verarmten, «ausgeschafft», wie es im Schweizer Beamtendeutsch heißt. Von Polizisten wird die Familie zum Bahnhof begleitet.

Mit phantasmagorischer Kraft schildert der Roman die Ankunft in Slowenien. Es ist stockdunkel, der Provinzbahnhof liegt verlassen da, in der Nähe nichts als schwarzer Wald. Der Onkel ist nicht gekommen, sie abzuholen, obwohl sie ihm telegrafiert haben. Sie stapfen über matschige Wiesen, durch verwirrende Flusstäler, Hänge hinauf und hinab, im spärlichen Licht von Streichhölzern. Ringsum raschelnde, knackende, gurgelnde, glucksende Natur, als wären sie in eine archaische Sumpflandschaft versetzt worden.

Wo hat der Spatz seine Augen?

Die Fremde wartet mit Feindseligkeit auf. In den Augen des Onkels blitzt der Hohn, in seinen Mundwinkeln spielt die Schadenfreude. Den Jungen wird er mit einer Wagenkette halbtot prügeln. Dinge und Menschen scheinen Masken zu tragen, immer muss mit einer bösen Überraschung gerechnet werden. Den «Zugereisten» wird als Zeichen der Drohung ein Spatz mit ausgestochenen Augen ins Zimmer geworfen: «Sie hingen wie zerdrückte Rosinen am Schnabel herunter. Wut, Grauen, Ekel stiegen in mir auf.»

Grässliches geschieht in der Umgebung: Eine besoffene Frau erschlägt ihr waldschratartiges «Männchen» mit der Axt. Selbst die Natur scheint bösartige Züge anzunehmen, wie die unbändigen, aus dem Gebirge hervorschießenden Flüsse: «Die Krka strömte wie eine Fahrbahn aus der Hölle … ein ganzer Wagen … ein halber Heustadel … einmal sogar ein Ochse, der nach Luft schnappte und muhte … alles schwamm rasch vorbei und krachte gegen die Ufer.»

Landleben. Überall Pferdeäpfel, Kuhfladen, Kotlachen: «Die Welt war ein Klo unter freiem Himmel.» Angesichts der erniedrigenden Verhältnisse ringt die Mutter die Hände. Sie kann dem Vater das slowenische Elend nicht verzeihen. Sie ist eine disharmonische Schicksalsgemeinschaft, diese Familie. Die Eltern sind schon im «Methusalem-Alter». Der Vater war Mitte fünfzig, die Mutter nur fünf Jahre jünger, als der Nachzügler Alojz Samson geboren wurde. Jetzt ist die Mutter schon zahnlos, der Vater «ganz grau, alt wie ein Großvater». Zwei Schwestern gibt es, Gritli ist zwölf, Clairi sechzehn Jahre älter als der Junge. Letztere hat ein uneheliches Kind dabei: Gisela mit dem Hüftschaden.

Mit dem Umzug nach Ljubljana wenden sich die Dinge nicht zum Besseren. Die Familie lebt in bitterer Armut; zu viert schlafen sie in einem Bett. Der Vater verbringt die Nächte auf dem Tisch, das sei auch gesünder für den Rücken, meint er. Aber bald ist er lungenkrank und wird sich nie wieder erholen. Sie ziehen von einer elenden Unterkunft in die nächste, meist bei Nacht, damit die Passanten nicht über den jämmerlichen Hausrat lachen. Clairi prostituiert sich, um einen zum Rauswurf entschlossenen Vermieter zu beschwichtigen. Der Vater schuftet wortkarg vor sich hin und kommt zu nichts, die Kinder gehen in der Stadt umher, um die gefertigten Pelzstücke zu verkaufen – es sind Bettelgänge. Obwohl Kenner über die Handwerkskunst des Vaters sagen: «Das ist wirklich ein großer Meister.»

Alojz, der meist «Bubi» genannt wird, erlebt eine Kindheit als Underdog, wie der vielfach gedemütigte Anton Reiser des Karl Philipp Moritz. Zugleich ist er ein trotziger, kampfbereiter Junge, der die «Muttersöhnchen mit Eimerchen und Schäufelchen» verachtet. Und natürlich ist die schlimme Jugend literarisch immer die ergiebigste. Denn der Reiz jedes Kindheitsromans ist die Erschließung der Welt, die bewusstseinsbildende Konfrontation mit den Tatsachen des Lebens.

Der Leser empfängt hier starke Eindrücke der Stadt, in der Alojz herumstrolcht: Ljubljana mit seinen Märkten und Schlachthöfen, Baracken und Bürgerhäusern, kunstvollen Brücken und Dichter-Denkmälern. Bauern, Handwerker, Lehrer, Politiker, deutsche Soldaten – zahlreiche Typen der Zeit ziehen vorbei, in meist knappen, aber scharfen Portraits, ein menschliches Bestiarium.

Als Außenseiter verspottet

Peinlichkeit ist ein Leitmotiv der Trilogie. Alojz schämt sich für seine Kleidung, etwa die «Nonnenstiefel», in denen er mangels anderen Schuhwerks herumlaufen muss. Vor allem aber schämt er sich, sobald er den Mund aufmacht. Slowenien hat zwar kaum zwei Millionen Einwohner, verfügt dafür aber über eine der schwierigsten Sprachen Europas, mit einer Grammatik, deren Deklination allein mit sechs Fällen und dem Dual aufwartet. Hinzu kommt die Aussprache, eine echte Herausforderung.

Für den Jungen ist es eine «seltsame, weiche Sprache», die nach «Ess- und Trinkgeräuschen» klingt. Noch seltsamer klingt es allerdings, wenn er selbst sie zu sprechen versucht, was die slowenischen Kinder zum Totlachen finden. «Dieses Lachen war nicht freundlich, das hatte ich rasch bemerkt.» In der Schule wird der Spott zu seinem ständigen Begleiter.

In Verlegenheit bringt den Jungen auch seine halbdeutsche Abstammung. Deutsche – Angehörige eines Volkes, das die ganze Welt aus den Angeln heben will – ziehen entweder Bewunderung oder Hass auf sich, zunehmend letzteren. Wo Alojz auftaucht, wird «Haijlhitler!» geschrien. Der Vater sympathisiert mit dem Diktator, und weil man diesmal nicht den Zug der Zeit verpassen will und sich Vorteile erhofft, wird der Junge später gegen seinen Willen gedrängt, der Laibacher Hitler-Jugend beizutreten.

Frühlings Erwachen mit Mussolini

Panik und Plünderungsszenen beschließen den ersten Band. Aber statt der Deutschen, die das Königreich Jugoslawien mit der üblichen Blitzkrieg-Überrumpelung niedergeworfen haben, marschieren im Sommer 1941 zunächst die Truppen Mussolinis ein. Der zweite Band schildert das Leben unter der Besatzung, die nicht zuletzt libidinöse Qualität hat. Die herausgeputzten italienischen Soldaten beflirten und beschmusen alles, was jung ist und Röcke trägt. In den Kinos finden Paarungen statt, so dass Unvorsichtige leicht auf den Liebessäften ausrutschen können. Für Alojz gibt es viel zu beobachten; auch für ihn ist die Zeit der ersten erotischen Stürme gekommen.

Tatjana, beinahe eine Freundin, muss es einem ganzen Knabentrio besorgen, obwohl sie doch eigentlich nur Alojz mag – aber Freunde sind nun einmal Freunde, und Kinderspiel und Liebesspiel sind in den Gossen von Ljubljana merkwürdig verquickt. Sexuelle Initiationserlebnisse gehören zur Erzählung einer Jugend. Da macht dieses Buch keine Ausnahme. Sehr eigenwillig und faszinierend ist allerdings die extreme Ambivalenz der Wahrnehmungen. Abscheu, Irritation und ein metaphysisch aufgeladenes Verlangen werden fast eins in den kafkaesken Sexualbeschreibungen.

Hakenkreuze und Marmeladenkekse

Höhepunkt des zweiten Bandes ist die Darstellung der rassenbiologischen Untersuchung, der sich die Familie im Sonderzug der nationalsozialistischen «Umsiedlungskommission» einen ganzen Tag lang unterziehen muss. Es gilt, aus Krainer «Volksdeutschen» prospektive Reichsdeutsche herauszufiltern. Die Betroffenen, die in eine peinigende Prozedur geraten, sehen diese Auswüchse des Umsiedlungswahns mit durchaus gemischten Gefühlen. Die Stimmung ist gereizt, Beschimpfungen sitzen locker, schnell ist jemand ein «Slowenenschwein» oder «Deutschenschwein».

Am Ende der grotesken Veranstaltung werden die Kovacics als «gleichberechtigte Staatsbürger des Dritten Reichs» beglückwünscht; es gibt Hakenkreuze und Marmeladenkekse für die Kinder. Nun aber will die Mutter nicht mehr nach Deutschland zurück: «Ich habe von all diesem Theater den Hals voll.»

Unterdessen geht dem lungenkranken Vater buchstäblich die Luft aus. Während seiner Anfälle müssen ihn die Angehörigen «bis zur Hälfte durch das Dachbodenfenster schieben, damit er ein paar frische Brisen Luft schnappen» kann. Auf das Siechtum folgt ein qualvoller Tod. Und der Krieg kommt näher. Immer öfter dröhnen die «Fliegenden Festungen» mit ihrer Bombenlast über die Stadt hinweg; immer öfter ist von Geiselerschießungen und Standgerichten die Rede, von ermordeten Bauern auf den Dörfern, von Bestialitäten, in denen sich Wehrmacht und Partisanen gegenseitig überbieten, vom unerklärten Bürgerkrieg, der ebenso viele Opfer fordert wie der Kampf gegen die Besatzer.

Es gibt Verschwörungen in Hinterzimmern und Attentate auf offener Straße. Angesichts der sozialistischen Ausrichtung der Widerstandsbewegung bilden sich antikommunistische Verbände: die Domobranzen, die slowenische Heimwehr, die Weißen Garden. Zu wem soll man sich halten? Die Desorientierung wird größer, und Gelegenheiten zum Verrat nehmen inflationär zu: «Jeder vermied es, irgendeine Meinung zu haben … jeder war ein Verleumder … der Mensch ist seiner Natur nach ein Denunziant, ein Spitzel, so wurde er geboren, er kann nicht anders.»

Céline und Bernhard als Paten

Diese «Chronik» ist ein Werk von erzählerischer Wucht, das nicht zufällig schon vom Schriftbild her mit seinen vielen Auslassungspunkten an die Romane Louis-Ferdinand Célines erinnert. Auch hier der Furor, das Atemlose, die Wut, das Rohe. Der bitter-komische Katastrophismus und die immer wieder aufblitzende Lust an Polemik lassen auch an die autobiografischen Romane Thomas Bernhards denken.
Wie bei Bernhard verdüstert sich allenthalben der Horizont, aber die Zukunft des Ich-Erzählers – wir wissen ja, worauf es mit ihm hinausläuft – hellt sich insgeheim auf. Eingestreut sind Episoden aus dem Bildungsroman eines jungen Mannes, der zu lesen und zu schreiben beginnt und erste Begegnungen mit Kulturmenschen hat. Die Literatur wird ein «Reservat der Freiheit», die «unter Schmerzen eingepflanzte» zweite Muttersprache zum Kunstmittel.

Auch der Nachkrieg ist voller Gräuel

Am Anfang des dritten Bandes: volksfestartige Szenen, die Tito-Partisanen sind da, Befreiung! «Noch nie waren so viele und so glückliche Gesichter zu sehen gewesen, genaugenommen eine weiche, schreiende rosige Masse …» Aber während auf den Straßen Blumen gestreut werden, während getanzt und gesungen wird, toben sich zugleich «Rachegelüste und Schlächterwut» aus. In den Wäldern werden alte Rechnungen beglichen: Die Kommunisten füllen die Höhlen und Felsspalten des Karst mit den Leichen ihrer Gegner. Zwölftausend Heimwehr-Leute, die ins besetzte Österreich geflohen waren, wurden von den Engländern über die Karawanken zurückgeschickt – in den sicheren Vergeltungstod.
Grausamkeit gehört zum Alltag. In einer Szene des Romans trägt jemand einen frischen Menschenkopf in der Aktentasche – «Hihihi, lachte Bostjan, hingemacht haben wir sie, die Weißen …» Massaker gehören zu den Gründungsszenarien des Tito-Staates – aber bis vor kurzem wurden sie verdrängt. Dass Kovacic sie bereits in den achtziger Jahren zum Thema machte, beweist seinen Mut.

Beklemmend wird eine Massenversammlung der Jugendorganisation geschildert, die zu einer öffentlichen Säuberungsaktion entgleist. Das Denunziantentum erblüht von Neuem. Auch für Alojz beginnt eine Zeit permanenter Gefährdung: Mit seiner halbdeutschen Abstammung und der Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend ist er jederzeit angreif- und erpressbar. Die Familie verschanzt sich in der Dachwohnung, als könnte das helfen.

Alojz lernt Partei-Blech reden

In einer Nacht- und Nebelaktion werden Mutter, Schwestern und Nichte Gisela nach Österreich vertrieben: Der Vater habe doch für Deutschland «optiert». Nur der Junge darf bleiben. Aber weil er angeblich «Volksvermögen» verkauft hat – in seiner Not wollte er die Hinterlassenschaften seines Vaters zu Geld machen –, kommt er wenig später ins Gefängnis.

Dann wiederum darf er seine Schulausbildung in einem Internat fortsetzen und sich an der «Strecke der Jugend» von Samac nach Sarajewo beim Schienenverlegen bewähren. Grandiose Szenen schildern die Schufterei in der sengenden Hitze und das absurde System der Norm-Übererfüllung: «Die Bergarbeiter gelobten, mehr Kohle zu fördern, die Lokführer, schneller zu fahren, als der Fahrplan vorgab.»

Eindrucksvoll fängt Kovacic die Stimmung der jugoslawischen Aufbruchsjahre ein. In den ersten Nachkriegs-Sommern ist der nächtliche Tivoli-Park voller Liebespaare, in allen Büschen seufzt und stöhnt es, als gälte es, die Menschenverluste des Krieges schnellstmöglich wettzumachen. Auch der politische Optimismus ist nicht nur verordnet – er beflügelt die jungen Leute ernsthaft mit der Hoffnung, die neue sozialistische Welt zu schaffen, ungeachtet des blechernen, hohltönenden Floskel-Repertoires, dessen sie sich bedienen.

Ein märchenhaft schönes Land

Der Enthusiasmus des jungen Mannes entzündet sich aber vor allem an der slowenischen Landschaft, auch wenn sie noch mit rostendem Kriegsgerät zugemüllt ist. Als Korrespondent im Auftrag der «Mladina» – jener Zeitschrift, die die Jugend im Titel trägt und mit ihrem kritisch-frechen Enthüllungsjournalismus später entscheidend zur slowenischen Unabhängigkeitsbewegung beitrug – reist er in den Nachkriegsjahren im Land umher. Staunend stellt er dabei fest, welche klimatisch-landschaftliche Vielfalt das kleine Land auf seinen geografisch schmalen Schultern stemmt: alpenländische Bergwelt, adriatisches Küstenland, balkanische Karstlandschaft, Weinberge wie in der Toskana und die mitteleuropäische Ebene der Prekmurje. Ein Zauber der Vielfalt, fast märchenhaft.

Ernüchternd dagegen die Kulturpolitik. Die Autoren haben sich auf sozialistischen Realismus zu verpflichten. Erwünscht sind Gedichte über Zement und Schrauben, eben die sonnige Literatur des Fünfjahresplans – keine spätromantisch-düsteren Prosastücke über den Tod des Vaters. Aber genau das ist es, was der Siebzehnjährige vorlegt, zum Abscheu der Kulturfunktionäre: «Pessimistische Pfuscharbeit», «verschimmeltes, konservatives Lebensgefühl» und wie die Unerwünschtheiten noch lauten. Er solle doch endlich das Beschreiben seiner selbst lassen und sich der neuen Zeit zuwenden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Trilogie als große Trotzgebärde: nichts als Beschreibung seiner selbst. Gerade dadurch allerdings ist sie auch ein fulminantes Panorama der Zeit, die ihm von Geburt an Widerstand entgegenbrachte.

Vor allem die ersten beiden Bände sind Meisterwerke; bittere, aber den Leser packende Bücher, von größter Intensität der Beschreibung. Der dritte Band ist mit 600 Seiten etwa doppelt so umfangreich wie die vorhergehenden, hat aber nicht mehr ganz deren Dichte. Dafür überzeugt er durch die subversive Ironie in der Darstellung.

Einen Menschen so sorgfältig zu beschreiben wie ein Botaniker eine Pflanze – das war Kovacics erklärtes Ziel. «Die Zugereisten» sind ein Erinnerungskunststück von botanischer Genauigkeit, ein gewichtiges historisches Dokument, dessen Bedeutung noch wachsen wird. Denn auch das 21. Jahrhundert wird eines der «Zugereisten» sein.
Nazadnje še, prijatlji,kozarce zase vzdignimo,ki smo zato se zbrat'li,ker dobro v srcu mislimo.
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